Jetzt kommt die Stunde der Zweifler

15. Apr 2020 • News • rheingold institut • Pressemeldung • Wirtschaft, Politik & Gesellschaft

Seit drei Jahrzehnten beschäftigt sich das deutsche Rheingold Institut mit psychologischer Markt-, Medien- und Kulturforschung national und international. CASH sprach mit Stephan Grünewald, Managing Partner des Rheingold Instituts und Mitglied des 12köpfigen Expertenrates von Nordrhein-Westfalen über die aktuelle Situation rund um Corona.


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CASH: In Österreich haben die Baumärkte wieder geöffnet und wurden gestürmt. Kilometerlange Schlangen waren die Folge. Warum machen die Menschen das?

Grünewald: Weil Corona immer einen Schritt voraus ist, daher wollen wir jetzt immer Erster sein. Zumal Baumärkte so wichtig sind, weil die Menschen jetzt Zeit haben und Projekte realisieren wollen. Auch um ihre Ohnmacht zu kompensieren, nichts macht Menschen mächtiger als der Baumarkt.

Also ein ähnliches Phänomen wie zu Beginn der Krise mit den Hamsterkäufen?

Die erste Phase war vor allem durch die Bewältigung der Ohnmachtserfahrung geprägt, mit der das Corona-Virus die Menschen konfrontiert. Alle sehen sich mit einer fremdartigen Bedrohung konfrontiert, die sinnlich nicht wahrnehmbar ist. Durch diese Unfassbarkeit funktionieren die bewährten Flucht- oder Abwehrreaktionen der Menschen nicht. Oft bleibt das Gefühl einer schwer aushaltbaren bleiernen Ohnmacht. Durch die Hamsterkäufe können die Menschen demonstrieren, dass sie das Heft des Handelns in der Hand haben. Sie haben das souveräne Gefühl, sich wenigstens aktiv versorgen zu können, wenn man sich schon nicht vollständig schützen kann. Wer genügend Kohlenhydrate im Schrank hat, hofft sich über potenzielle Stimmungskrisen, Beziehungskonflikte oder einen drohenden Lagerkoller hinweg zu retten. Auch mit dem Horten von Klopapier demonstrierten die Käufer derzeit ihre - auch in Krisenzeiten - große „Geschäftstüchtigkeit“.

Wie ging es den Menschen damit?

Gemeinsam haben Politik, Bürger und Medien versucht der Bedrohung zu begegnen und der Ohnmacht zu entkommen, durch eine Aktivitäts- bzw. Begrenzungsspirale. Über Wochen wurde die soziale Fastenzeit durch immer weitere Verzichtsappelle und Kontaktbeschränkungen ausgebaut. Aber trotz aller Anstrengungen und Maßnahmen bleibt allen Akteuren das Gefühl „ewige Zweite“ zu sein. Wie im Märchen vom Hasen und dem Igel scheint das Virus immer einen Schritt weiter zu sein und neue Einigelungen zu fordern.

Und jetzt befinden wir uns emotional in welcher Phase?

Jetzt sind wir in der zweiten polarisierenden Phase der Krisenverarbeitung. Die Stunde der Zweifler ist gekommen! Weitere wirtschaftliche Maßnahmen wird es voraussichtlich nicht geben. Eigentlich müssten wir uns nun mit der sozialen Fastenzeit arrangieren. Das würde aber die Rückkehr der Ohnmacht bedeuten. Deshalb ist jetzt die Stunde der Zweifler gekommen. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird in den nächsten Wochen zunehmend bröckeln. Für die Politik wird es nun sehr viel schwieriger, den Prozess zu steuern. Denn viele Menschen stellen sich derzeit die Frage: Muss das überhaupt alles sein? Sind die Maßnahmen angemessen? Wie lange soll der Zustand noch dauern? Die über alle politischen Parteien hinweg beschworene Einheit wird in den kommenden Tagen und Wochen Risse bekommen und es werden sich polare Fronten bilden: Virologen versus Wirtschaft, Freiheitsliebende versus Autoritätsgläubige, Junge versus Alte, Krisen-Gewinnler versus Krisen-Verlierer. Dadurch werden auch die im Netz kursierenden Verschwörungstheorien neue Nahrung erhalten.

Was muss daher Ihrer Meinung nach geschehen?

Das Vorgehen der österreichischen Regierung war da schon richtig: den Menschen Lockerungen ankündigen, sie umsetzen, an die Eigenverantwortung der Menschen appellieren, die Sicherheitsmaßnahmen einzuhalten. Und alle drei Wochen überprüfen, ob die gesetzten Maßnahmen keine Verschlechterung der Infektionsrate mit sich bringen. Denn die klare individuelle Delegation von Verantwortung bannt nicht nur Infektionsrisiken, sondern auch Ohnmachtsgefühle. Gerade in der Polarisierungsphase ist es wichtig, eine produktive Streitkultur zu pflegen und Maßnahmen oder Restriktionen nicht als alternativloses Diktum zu verkünden. Dabei sollten jedoch auch keine falschen Hoffnungen geweckt werden. Eine kurzfristige Rückkehr. zur Normalität, wie wir sie kannten, wird es nicht geben. Aber wir werden uns auf eine neue, eine „wachsame Normalität“ zubewegen. Psychologisch betrachtet kann dies gelingen, wenn die partiellen Lockerungen der Maßnahmen damit verbunden werden, dass die Menschen klare und individuell differenzierte Handlungsanweisungen bekommen, wie sie der Bedrohung begegnen können.

Wo sehen Sie die größte Gefahr?

Wenn Lockerungen wieder zurückgenommen werden müssten. Bei all diesen anstehenden Herausforderungen sind nicht nur Politik und Medien gefordert, sondern auch Unternehmen und Marken. Denn sie können heute mehr denn je wichtige und vor allem alltagsrelevante Navigationshilfen für die Menschen sein.